Am 25. April 2002 trafen sich erstmals verschiedenen Sans-Papiers-Kollektive mit Nationalrät*innen verschiedener Parteien von links bis rechts, Menschenrechts-, Solidaritäts-, kirchliche und gewerkschaftlichen Organisationen in Bern. Verschiedene Aktionen der Kollektive, Kirchenbesetzungen, Demonstrationen und Medienberichte hatten nach einer Demonstration mit über 10'000 Teilnehmenden in Bern zu einer vertieften Nationalratsdebatte am 10. Dezember 2001 geführt. Weil das Parlament alle Forderungen inklusive der Idee eines Runden Tisches verworfen hatte, nahmen die Betroffenen die Angelegenheit selbst in die Hand und gründeten die «Plattform für einen Runden Tisch zu den Sans-Papiers».
In einer ersten Phase hoffte man noch, dass es möglich sein würde, durch Dialog zwischen den Bundesbehörden, Hilfswerken, Kantonen und Sans-Papiers zu einem Kompromiss zwischen Einzelfallregelung und Globallösung zu gelangen, der es ermöglicht hätte, eine grössere Anzahl von Sans-Papiers zu regularisieren. Zwischen 2003 und 2007 organisierte die Plattform mehrere Treffen zu spezifischen Themen wie Zugang zu Gesundheit, Berufsbildung für junge Sans-Papiers und Heiraten. Jedes Mal nahmen viele Vertreter*innen der Zivilgesellschaft teil - von Seite der Behörden kam dagegen sehr wenig Echo. Folgerichtig wurde die Plattform im Jahr 2006 zur "Plattform zu den Sans-Papiers" umbenannt.
Die Plattform
Im Frühjahr 2008 gründete die Plattform den Verein «Für die Rechte illegalisierter Kinder» und startete die gesamtschweizerische Kampagne «Kein Kind ist illegal», welche auf die Situation illegalisierter Kinder aufmerksam machte und zum Ziel hatte, deren Situation zu verbessern. In den darauffolgenden zwei Jahren konnte ein breites Netzwerk etabliert werden, das sich für die Rechte illegalisierter Kinder einsetzt, Öffentlichkeitsarbeit zur Enttabuisierung des Themas und Lobbyarbeit für den Zugang zur postobligatorischen Bildung geleistet werden. Letztere führte zu einer Verordnungsänderung durch den Bundesrat im Februar 2013, die jugendlichen Sans-Papiers, die in der Schweiz zur Schule gegangen sind, ermöglichen soll, eine Berufslehre zu machen. Der erhoffte Effekt der Verordnungsänderung blieb bis heute jedoch aus, seit der Auflösung des Vereins «Für die Rechte illegalisierter Kinder» kümmert sich die Plattform weiter darum.
Am 1. Februar 2012 wurde aus der Plattform der Verein «Hausarbeit aufwerten – Sans-Papiers regularisieren» gegründet mit dem Ziel der Durchführung einer gesamtschweizerischen Kampagne für die Rechte und die Regularisierung von Sans-Papiers Hausarbeiterinnen. Eine entsprechende Petition wurde am 5. März 2014 mit 21’875 Unterschriften von 34 Mitgliedsorganisationen eingereicht. Dank entsprechender Lobby-Arbeit konnte der Verein insbesondere erreichen, dass die ILO-Konvention Nr. 189 «für menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte» von der Schweiz ratifiziert wurde. Nach Abschluss der Kampagne hat sich der Verein "Keine Hausarbeiterin ist illegal" Ende 2014 aufgelöst. Für die regionalen Sans-Papiers Beratungsstellen sind die Hausarbeiterinnen nach wie vor ein zentrales Thema. Um das Engagement auf nationaler Ebene weiterzuführen wurde ausserdem eine spezielle Arbeitsgruppe gebildet.
Austausch und regionale Projekte
In den folgenden Jahren konzentrierte sich die Arbeit der Plattform-Mitglieder hauptsächlich auf die regionale Verbesserung der Situation von Sans-Papiers in der Schweiz. Dabei diente die Plattform insbesondere dem Austausch zwischen den Kantonen und mit den Behörden. 2017 startete der Kanton Genf dank des erfolgreichen Lobbyings der lokalen Plattform-Mitglieder eine Regularisierungskampagne mit dem Namen «Opération Papyrus», die 2’390 Personen zu einem Aufenthaltsstatus verhalf. Entsprechende Bemühungen der Plattform-Mitglieder, die Operation in anderen Kantonen zu übernehmen, liefen bisher trotz der positiven Bilanz der Genfer Kantonalbehörden ins Leere.
Seit 2017 wird von Plattform-Mitglieder in verschiedenen Städten das Konzept Urban Citizenship bzw. Stadtbürger*innenschaft verfolgt. Am weitesten fortgeschritten ist die Kampagne für eine «City Card» in Zürich, über die die Stimmbevölkerung Mitte Mai 2022 abstimmte. Weitere Schwerpunkte der Plattform sind Regularisierungsaktionen für Nothilfebeziehende in den Regionen, der Umgang der Kantone mit langjährig anwesenden, abgewiesenen Asylsuchenden (insbesondere aus Tibet), die Umsetzung der Asylgesetzrevision vom März 2019 sowie die verschiedenen Praxen der Zivilstandsämter bei Geburtseintragung und Kindesanerkennung. Eine wichtige Aktivität der Plattform-Mitglieder bestand während der Covid-Pandemie darin, die dramatischen Situationen von Sans-Papiers, die für Lebensmittel anstanden, aufzufangen: In verschiedenen Städten konnte ihnen dank entsprechender Lobby-Arbeit unkompliziert geholfen werden.
Die Vereinsgründung
Auf struktureller Ebene hat die Plattform 2018 einen organisatorischen Wandel mit einer neuen Charta und zwei Gremien – Kerngruppe (mit einer stärkeren strategischen Rolle) und Plattformsitzungen – eingeleitet. Im Jahr 2019 wurde die Charta endgültig verabschiedet und in Kraft gesetzt. 2020 konnte eine geringfügig besetzte Lobby- und Kommunikationsstelle geschaffen werden. Dieser Prozess konnte 2022, 20 Jahren nach Gründung der inoffiziellen Plattform, mit der Gründung des neuen Vereins «Plateforme sans-papiers Suisse», einem neuen Logo und einer neuen Webseite erfolgreich abgeschlossen werden.